Am Tag des Friedhofs 2025, am 14. September, las Anna Thalbach Texte, die von der Jury des Geschichtenwettbewerbs ausgewählt wurden. Einer dieser Texte war der Text Marlen Wagners, den wir nun auf unserer Website veröffentlichen möchten.
Ich hatte einen Traum (Marlen Wagner)
Die Nacht vom 21. Juni 2025 wird für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben. In dieser kürzesten Nacht, die auf den längsten Tag des Jahres folgte, geschah Ungeheuerliches. Und ich war Zeugin.
Endlich hatte ich mir meinen langgehegten Traum erfüllt, diese besondere Nacht draußen zu verbringen. An Feuern hatte ich gesessen und den Gesprächen der Menschen gelauscht, war für kurze Zeit Teil einer Gemeinschaft gewesen, die mich, die Fremde, willkommen geheißen hatte, in dieser Nacht. Kräuter und Blumen hatte ich zu einem Kranz gebunden und ihn, nach einem sehr kurzen Aufenthalt auf meinem Kopf, dem Flüsschen übergeben. Nun stand ich auf der kleinen Brücke über der Panke und sah zu, wie er im Mondlicht davonglitt. Die Feuer waren heruntergebrannt, einzeln, in Paaren oder kleinen Gruppen strebten die Menschen fort aus dem Park. Einige nickten mir zu, als sie die Brücke überquerten, auf der ich immer noch verweilte. Auch ich wollte nach Hause, blinzelte ihnen schläfrig zu – und doch zögerte ich, mich endgültig auf den Heimweg zu machen. Ein Zögern, das nicht nur meine Schritte hemmte, wie mir plötzlich bewusst wurde. Diejenigen, die eben noch im Vorübergehen freundlich meine Schulter gestreift hatten, verharrten, blieben stehen. Bald standen wir dicht an dicht auf der kleinen Brücke und warteten. Ganz still war es geworden, das Singen verstummt und selbst das Feuer knisterte nur mehr unhörbar. Kein Vogel der Nacht hob seine Stimme, Hunde lagen zu Füßen ihrer Menschen, mit gespitzten Ohren. Die Blätter an den Ästen der Bäume raschelten nicht mehr und der laue Nachtwind verebbte. Tiefe Stille senkte sich über Bäume, Tiere und Menschen – etwas hielt den Atem an und machte sich bereit. Beängstigend hätte es sein müssen, doch in niemandes Augen sah ich Furcht. Gespanntheit, Erwartung – doch keine Furcht.
Und dann sahen wir es. Kommen. Vom Friedhof her bewegte sich etwas auf uns zu, über uns hinweg mit einem Seufzen aus vielen unsichtbaren Kehlen. Es hatte keine festen Konturen und doch sahen wir in der Masse über uns Gestalten. Durchscheinend, menschlich. Der Strom trieb nach Südosten. Wir blickten ihm nach und hörten ein Wispern. „Nie wieder“. Und manchmal „Nie wieder ist jetzt“. Aus allen Grasflächen des Parks sprossen mit Macht Blumenstängel. Große rote Blüten öffneten sich im gelblichen Licht der leuchtenden Schemen. Als das letzte Wispern verklungen war, der letzte Schemen über uns am Nachthimmel nicht mehr auszumachen war, zogen sie sich wieder unter grünes Gras in die Erde zurück. Wir lösten uns aus unserer Erstarrung und gingen nach Hause. Immer noch schweigsam und so behutsam, als könne die Welt unter einem lauten Schritt zerspringen.
Zu Hause machte ich kein Licht, das Mondlicht reichte aus, mich zurechtzufinden. Zurechtzufinden, dachte ich spöttisch, das war nicht so einfach. Die Welt hatte den Atem angehalten. Ich ging ins Arbeitszimmer, öffnete die Fenster weit und lauschte. In die Stille mischten sich Geräusche, sehr leise, doch hörbar. Die Stille der Nacht war zurückgekehrt. Ich fuhr den Computer hoch, schaltete das Internet ein.
Nach und nach erschienen Berichte, und alle beschrieben das, was auch ich, was auch wir erlebt hatten.
In allen Ländern erhoben sich aus den Stätten der ehemaligen Vernichtungslager und ihrer umliegenden Felder Aschewolken und formten sich zu jenen durchsichtigen Gestalten, die auch wir gesehen hatten. Auch aus den Massengräbern der Weltkriege und den endlosen Soldatenfriedhöfen strebten Schemen empor. Auch sehr kleine Wolken gab es – so wie die, die wir in jener Nacht über Pankow sahen.
Und überall vernahmen die Menschen dieses Seufzen, dieses Wispern. Keine Abzeichen, keine Sterne trugen die Schemen, ihre Kleidung war der Rauch, die Asche, vage geformt im Wind, der sie trug. Der sie trug hinaus in Richtung auf Gethsemane, Gat Schmanim, dem Garten, an dessen Rand die Basilika der Agonie liegt.
Die Wolken der schemenhaften Gestalten bewegten sich zu auf jenes Land, kamen über es wie die sieben Plagen über Ägypten. Der Engel der Geschichte begleitete sie. Dem Sturm des Fortschritts entrissen, bewegte er seine Flügel frei, seine Augen blickten grimmig. Nicht länger war er verdammt, nur zuzuschauen.
Millionen Schemen – und sie fegten hinweg die Massenmörder, die Kriegsverbrecher, die Geschichtsvergessenen, die Fanatiker und die ohne Zweifel. Nahezu lautlos, konsequent.
Der Sabbat war vorüber, die Arbeit im fahlen Licht des neuen Tages getan. Die Wolken kehrten um, lösten sich auf über den Friedhöfen, den Feldern, den Stätten, von denen sie gekommen waren – mit einem letzten Leuchten im Morgenrot des neuen Tages.
Der Engel der Geschichte jedoch blieb, rief andere herbei. Und gemeinsam unterrichteten sie die Menschen zweier Völker, eine gemeinsame Zukunft zu formen.
Auch ich sah von meinem Fenster einen fernen hellen Schein, dort, wo der Friedhof liegt.
Ich wachte auf und ich weinte – ich hatte einen Traum.
